Dann bleib ich eben sitzen!


Leseprobe



1. Und Tschüss!

Zeugnisvergabe. Herr Breuer ruft uns einzeln auf. Nach dem Alphabet.
„Melina!“
Melina springt in der Reihe hinter mir auf und rast nach vorne.
Herr Breuer gibt ihr das Zeugnis: „Wie immer, sehr erfreulich!“
Quietschend vor Glück rennt sie zu ihrem Platz zurück.
„Jannik!“
Jannik steht auf und geht nach vorne.
„Die Vier in Mathe muss verschwinden! Streng dich im zweiten Halbjahr mehr an!“
Jannik nickt nur zustimmend. Der Honk!
Bei einer Vier in Mathe würde ich jubeln.
„Touraj!“
Mein bester Kumpel steht ebenfalls auf und begibt sich nach vorne.
„In Englisch hast du dich verbessert, aber die Vieren in den Nebenfächern will ich auf dem nächsten Zeugnis nicht mehr sehen!“
Auch Touri nickt und sagt nur ein leises: „In Ordnung.“
Als er sich zu mir umdreht, zieht er eine Grimasse.
„Anna!“
Anna geht an uns vorbei und ich starre auf ihren Hintern. Man kann ihr Höschen sehen. Rosa ist es. Ich stupse Touri an und wir prusten beide los.
„Hervorragend! Nur eine einzige Drei, ansonsten alles Zweien und Einser.“
Na, kein Wunder, so wie die den Lehrern immer in den Arsch kriecht.
„Tim!“
Ich seufze, erhebe mich und schleiche nach vorne.
„Wie schon angekündigt: Mit solch einem Zeugnis würdest du sitzenbleiben. Du hast keinen Ausgleich für die Fünf in Mathematik.“
„Ja, ja“, antworte ich. Hatte ich mir bereits gedacht. Obwohl ich insgeheim doch noch auf eine Drei in Deutsch gehofft hatte.
„Wir ziehen ja sowieso weg“, sage ich und ärgere mich, dass es wie eine Entschuldigung klingt.
„Und du glaubst, dass an der nächsten Schule alles schlagartig besser wird?“
Herr Breuer sieht mich abwertend an.
„Du musst endlich anfangen zu lernen!“
„Ja, ja“, wiederhole ich.
Der soll doch froh sein, dass er mich jetzt los ist. Ich gehe zu meinem Platz zurück.
„Scheiße!“, meint Touri, als ich mich setze. Er greift nach meinem Zeugnis und guckt sich die Noten an. „Mann, nicht mal eine Drei in Deutsch?“
Ich nehme ihm das Zeugnis wieder aus der Hand und schaue es mir an. Eigentlich keine Überraschungen: eine Fünf in Mathe, eine Fünf in Chemie, eine Zwei in Sport, ansonsten nur Vieren.
Klar, das Zeugnis ist beschissen, das weiß ich selbst, aber es ist doch sowieso nur das Halbjahreszeugnis. Das zählt doch eh nicht.


Nach der dritten Stunde endet der Unterricht dann. Weil’s Zeugnisse gab, dürfen wir früher gehen. Überall Gedrängel. Wir packen unsere Taschen, stellen die Stühle auf die Tische und ich schließe noch das Fenster neben mir. Im Treppenhaus strömen alle nach unten und freuen sich, dass sie früher ins Wochenende können. Doch während die anderen jetzt nach Hause gehen, heißt es für mich, Abschied zu nehmen von meinen Kumpels.
Im Foyer bleiben wir stehen. Touri, Lennart, Yanis und Cem sind noch da. Die anderen sind schon gegangen, obwohl sie wissen, dass ich wegziehe. Nicht mal der Breuer hat sich oben von mir verabschiedet. Der Idiot!
„Ey, meld dich, Alter! War witzig mit dir!“
„In den Ferien können wir ja mal nach Köln kommen!“
Eigentlich werde ich die Schule hier nicht wirklich vermissen. Scheiße ist nur, dass Touri und ich jetzt nicht mehr in einer Klasse sind. Mit ihm habe ich mich echt gut verstanden.
„Ich werd dich vermissen“, sage ich. Und meine es auch so.
„Ich dich auch!“
Und das war’s auch schon. Kein Drama, keine lange Abschiedsszene, kein Nix.
Aber was soll’s? Mir macht das nichts aus. Die vier gehen zusammen noch in die Stadt. Auf mich wartet allerdings schon Tante Karin vor der Schule in ihrem roten Nissan Micra. Baujahr 1995. Ungelogen!
Meine Mutter ist schon vorgefahren, um den Möbelpackern die Wohnung aufzuschließen.
Eigentlich hatten wir ja gehofft, dass meine Schwester und ich heute freibekommen, aber die Schule hat sich natürlich geweigert. Von wegen Schulpflicht und so.
Die Beifahrertür des Nissans quietscht, als ich sie öffne, und ich hoffe, dass wir es in dieser Karre überhaupt bis nach Köln schaffen.
„Da bist du ja!“, trällert meine Tante.
Wie immer viel zu gut gelaunt.
„Hast du dich von deinen Freunden verabschiedet?“
„Hast du dein Zeugnis bekommen?“
„Hast du schon was gegessen?“
Geduldig beantworte ich ihre Fragen. Bei jedem anderen wäre ich genervt von so viel Fragerei, aber sie meint es nur gut. Und dann ist das okay für mich.
In der Beckstraße holen wir Kati in ihrer Schule ab. Sie geht auf eine spezielle Schule. Ich steige aus und lasse sie auf den Rücksitz (ist überflüssig zu erwähnen, dass Tante Karins Auto ein Dreitürer ist, oder?).
Kati freut sich. Wie fast immer.
„Könn wir Benjamin hörn?“, fragt sie aufgeregt. Damit meint sie Benjamin Blümchen.
„Och Schätzchen, hier im Auto habe ich leider gar keine Kassetten“, sagt meine Tante erleichtert.
Ja, richtig. Das Auto meiner Tante ist so alt, dass sie ein Kassetten-Radio hat – genau an der Stelle, wo bei anderen Autos das Navi samt Bluetooth-Radio ist.
„Nichschlimm!“ Kati kramt in ihrem Rucksack und holt eine Kassette heraus, mit der sie meiner Tante auf die Schulter tippt. Wir schauen uns entsetzt an.
Tante Karin seufzt kurz und steckt die Kassette in die Radioanlage.
„Törööö!“, hupt es aus den Boxen. Na super, dann fährt der Elefant also mit nach Köln! Kati singt aufgeregt den Titelsong mit: „Benjamin, du lieber E-le-fant ...“
Während Benjamin Blümchen sich darüber beklagt, dass es ihm zu heiß ist, und er ein Eis möchte, schaue ich aus dem Fenster. Tante Karin gibt ganz schön Gas in ihrem kleinen Nissan (wahrscheinlich hofft sie so, nur die Hälfte der Kassette hören zu müssen) und ich sehe, wie die Siedlung an uns vorbei- rast, in der ich aufgewachsen bin.
Und tschüss!, denke ich mir.